Conchita Wurst ist eine queere Ikone. Die österreichische Drag Künstlerin hat sich 2014 in unsere Herzen gesungen, als sie den Eurovision Song Contest in glamouröser Robe, langen falschen Wimpern und schön frisiertem Bart gewann. Zehn Jahre nach dem ESC Sieg ist Conchita so beschäftigt wie eh und jeh. Tom Neuwirth, die Person hinter dem Künstlername, hat im Mai seine neuste Single “Any Day From Now On” veröffentlicht und spielt momentan die Hauptrolle im musikalischen Theaterstück “LUZIWUZI. Ich bin die Kaiserin” im Wiener Rabenhof Theater.

Kurz vor Conchita’s Auftritt auf der Luxembourg Pride im Juli 2024, hat sich queer.lu mit Tom getroffen, um über Chosen Family, sein erstes Mal Drag und Europa Politik zu sprechen.

queer.lu: Die vierte Ausgabe von queer.lu dreht sich ganz um die Lebenserfahrungen von queeren Schüler*innen und ihrem Umfeld. In diesem Kontext kommt oft die Idee von Chosen Family auf. Was bedeutet Chosen Family, also Wahlfamilie, für dich?

Tom Neuwirth: Für mich ist Chosen Family die Umgebung, in der man sich uneingeschränkt verstanden fühlt, in der man sich nicht erklären und nicht verstecken muss – aber auch in der es keine einschränkenden Erwartungshaltungen zu dir als Person gibt, was dann manchmal im Gegensatz zu der biologischen Familie steht.

Wenn du jetzt an deine Karriere als Künstler zurückdenkst, welche Rolle hat deine Chosen Family in  deinem künstlerischen Werdegang gespielt?

Man ist immer die Gesamtsumme der Menschen, die einen umgeben. Natürlich sind meine Freundschaften und Erfahrungen mit in meine Kunst eingeflossen. Hmm… Was meine Freund*innen wahrscheinlich sagen würden, ist, dass sie mich auf dem Boden gehalten haben. Ich bin ein Mensch, wenn ich viel Zuspruch bekomme, dann bin ich schon… [großes Lächeln] all eyes on me! Meine Freund*innen halten mich dann schon auf dem Boden der Realität. Manchmal denke ich auch, ich kriege etwas zu wenig Aufmerksamkeit von ihnen [lacht]. Ich applaudiere ja auch immer allen zu, wenn sie eine Beförderung oder ein neues Auto bekommen. 

Wenn du jetzt ganz an den Anfang deiner Karriere zurückdenkst, zum Beispiel als du das erste Mal Drag gemacht hast, haben deine Freundschaften dir auch geholfen, dich mit deinem queeren Ausdruck wohlzufühlen?

Oh, ich hatte gar kein Problem damit! I felt alive!

Wann war denn dein erstes Mal Drag?

Es war vielleicht nicht direkt Drag, aber bei jeder Faschings- oder Karnevalsgeschichte war ich als Prinzessin oder Hexe verkleidet. Da waren no boundaries, wenn es um Klamotten ging. Ich bin auch in einem Kleid in die Schule und den Kindergarten gegangen. Im Turnunterricht wollte ich auch immer so ein One-Piece anziehen. Und das habe ich dann auch gemacht und meine Eltern haben mich das auch machen lassen. Meine Eltern haben aber immer vor der Schule gewartet, weil sie damit gerechnet haben, dass eine Konfrontation passieren könnte – und das ist auch passiert. Dadurch ist dann auch etwas in mir zerbrochen. Das hat sich aber geändert, als ich Anfang zwanzig war. Mein damaliger Freund, der auch Drag gemacht hat, hat mich zum ersten Mal geschminkt. The Power of Drag! Ich fand diese Freude total wieder. Ich sehe das auch bei meinen männlichen Freunden, wenn ich sie anmale, und sie  dann ausgehen. Die haben the time of their fucking life. Das war bei mir auch so, man fühlt sich unbesiegbar. Nicht unbedingt, dass man sich wie jemand anders fühlt, sondern einfach so selbstbewusst. 

Klingt ganz so, als würdest du jetzt auch viel deiner Chosen Family zurückgeben – zum Beispiel durch das Schminken.

Ja! They are all my daughters now [lacht].

A drag family that slays together, stays together. Da wir gerade vom Geben und Nehmen sprechen. Du wirst ja gleich auf der Luxembourg Pride auftreten. Gibt es   etwas, das die Zuhörer*innen von deinem Auftritt mitnehmen sollen – und das du für dich mitnimmst?

Ich versuche, alles für mich zu spüren. Bei all dem Perfektionismus und den Dingen, die man bei so einem Auftritt bedenken muss, will ich in erster Linie im Moment bleiben, so dass diese Energie auch überspringen kann!

Dann versuche ich auch immer etwas halbwegs Schlaues zu sagen. Dieses Jahr erinnere ich alle, dass wir wählen sollen, weil es der einzige Weg raus aus diesem Schlamassel ist. Und ich versuche natürlich eine gute Stimmung zu verbreiten. Ich will, dass die Leute Spaß haben – und im besten Fall, dass sie sich denken, dass sie mit den Eltern und dem Umfeld mal über die Wahlen und Politik reden sollen.

Du trittst auf vielen queeren Events und Prides auf der ganzen Welt auf. Wie erlebst du diese Räumlichkeiten und Safe Spaces während deiner Auftritte?

Vor allem bei Rise Like A Phoenix [Conchita Wurst gewann den Eurovision Song Contest 2014 mit dem Lied Rise Like Phoenix, d. Red.], spürt man die Community. So viele Leute verbinden so viel mit dem Lied und das spürt man halt extrem. Das kann man gar nicht beschreiben. Ich fühle mich dann immer so zurückversetzt. Ich spüre die Resilience, diese Kraft von unserer Gemeinschaft. Trotz des momentanen Gegenwinds, der verständlicherweise auch mal demoralisiert und einschüchtert, fühle ich mich unstoppable, wenn ich diesen Song singe. Wir sind alle zusammen und in einer Gemeinschaft ist man halt auch einfach stark.

Du hast gerade diesen Gegenwind angesprochen. Im Mai ist eine Studie über die Situation von queeren Menschen in der EU herausgekommen. Dort ist unter anderem zu lesen, dass 48% der LGBTIQ+ Menschen in Luxemburg es immer oder oft vermeiden, die Hand ihres gleichgeschlechtlichen Partners in der Öffentlichkeit zu halten. Wie hast du dieses Selbstbewusstsein für dich gefunden, deine queere Identität so offen zu zeigen?

Es ist natürlich total individuell. Wenn man sich nicht wohl fühlt, dann soll man es nicht machen. Ich wurde von klein auf so erzogen. Meine Großmutter ist auch immer so I don’t give a fuck what you think. Und das ist immer so die Energie bei uns zuhause gewesen. Für mich war es also ein Mix aus Erziehung, Familie, Vorbildern und Chosen Family. 

Aber bezüglich dieser Zahlen von Händchenhalten ist es wirklich wichtig zu sagen, dass, wenn man es nicht spürt, dann muss man es auch nicht machen. Es gibt eh Andere, die Queerness nach außen tragen und die laut sind. Ich habe mal so ein “meme” gesehen: I am going to be loud, so you can be comfortable [Übersetzung aus dem Englischen “Ich werde laut sein, damit du dich wohlfühlen kannst”, d. Red.]. Und ich finde, das ist auch schön so als Community, dass nicht jeder alles machen muss. Wir tun einfach alle das, was wir können und falls man sich bei etwas dann nicht so 100% wohl fühlt, dann übernimmt hoffentlich jemand anderes das.

Gibt es deiner Meinung nach noch Baustellen, die wir innerhalb der queeren Community angehen müssen, um uns noch besser untereinander zu unterstützen?

Man merkt halt, Community hin oder her, wir sind alle Menschen mit Egos und Meinungen. Natürlich verbinden uns gemeinsame Erlebnisse, zum Beispiel Coming Out oder ein queeres Kind auf dem Land zu sein und so weiter. Im besten Fall verbindet uns das alle und schafft Verständnis, aber das klappt leider nicht immer so. Es gibt auch Rassismus und Transphobie und andere Formen der Diskrimination bei uns. Das sind Systeme, die über Jahrhunderte hinweg geschaffen wurden. Ich bin aber davon überzeugt, dass, wenn wir höflich und nett sind, dann ist der erste Schritt getan – einfach respektvoll sein.

Ich habe vor kurzem gelesen: Egal bei welchem Konflikt, du sollst immer mit Fragen reagieren. Warum? Warum? Warum? Egal wie blöd die Fragen sind. Je tiefer du gräbst, desto eher macht die andere Person die Augen auf und man hat das Gespräch auf Augenhöhe. Man gibt der Person Aufmerksamkeit, mit der sie wahrscheinlich gar nicht gerechnet hat. Die denkt sich dann so: Du willst was über mich erfahren, obwohl ich dich gerade beleidigt habe. Damit kann man dieses defensive Reaktionsverhalten brechen.

Wir sind hier gerade, wie schon erwähnt, auf der Luxemburg Pride und da geht es einerseits darum, über die Konflikte, die innerhalb der queeren Community bestehen, zu reflektieren, aber ebenfalls darum unser Queer Sein und unsere LGBTIQ+ Familie zu feieren. Was könnte die Cis-Hetero Gesellschaft denn noch so von uns lernen?

So viel! Aber das muss man trotzdem auch differenziert sehen, besonders zwischen Männern und Frauen. Frauen haben strukturell viel mehr mit sich zu tun, weil sie ständig hören: du bist das, das und das nicht… So, wie wir queere Menschen das auch ganz oft hören. Und das zwingt dich, dich mit dir selbst zu beschäftigen. Das machen ganz viele weiße cis-hetero Männer nicht. Denen wird alles verziehen. Du kannst deine Frau schlagen, betrügen und dann? No accountability. Natürlich sind das nicht alle Männer, aber das männliche Ego und die männliche Fragilität sind real. Und Männer müssen sich nicht mit diesen Realitäten auseinandersetzen – zum Beispiel, sich zu fragen: Warum macht mich das wütend? Da beißt sich die Katze in den eigenen Schwanz, da es dann wiederum unmännlich ist, sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Das ist ein System, das zum Scheitern verurteilt ist, und trotzdem schon so lange anhält.

Um auf die Frage zurückzukommen: Check in with yourself, reflektiere, read the room. Da frage ich mich auch, worüber so viele Männer jammern. Ich denke nur so: Schau dir deine Mutter an, schau dir meine Mutter an. Was sind deine Probleme? Ich kann wirklich Männer, die sich dauernd in der Opferrolle sehen, nicht mehr ertragen. Selbstreflektion ist einfach so wichtig.

Zum Abschluss, für was steht Pride 2024 für dich?

Es ist intensiv. Letztes Jahr hat es schon angefangen, aber dieses Jahr noch stärker. Es gab eine Zeit, wo Prides so eine Leichtigkeit hatten und so ein Wohlwollen von allen Seiten bestand. Jetzt hat sich das verändert. Wir werden daran erinnert, dass unsere Rechte nicht sicher sind und die Demokratie einfach so ausgehebelt werden könnte. Ich hatte ganz, ganz lange online keinen einzigen Hass-Kommentar unter meinen Fotos – und das hat jetzt wieder angefangen. I can take it, ich kann damit umgehen. Und die Hoffnung stirbt zuletzt. Sollte es auch zum Schlimmsten kommen, dann werden wir das auch überstehen, weil wir das schon immer so getan haben.

Vielen Dank für das Interview Tom und viel Erfolg bei deinem Auftritt bei der Luxembourg Pride.

Foto: Pit Reding