Die Zusammenarbeit zwischen dem Modell/der lebenden Leinwand (der Luxemburgerin Kim Jones), dem Rigger (Bob, RopeMarks), der Kalligraphin (Nicolle Bötcher) und dem Fotograf (Ofir Abe) bilden ein kreatives Kraftpaket, das von gegenseitigem Vertrauen und der Synergie ihrer Talente lebt. Sie nennen sich selbst das Callibari-Kollektiv. Alles begann vor etwa zwei Jahren, als die vier beschlossen, mit ihrer unverwechselbaren Mischung von Kunstformen ein Zeichen zu setzen.
Callibari existiert in erster Linie als Live-Performance, wird aber dank der künstlerischen Dokumentation auch in verschiedenen künstlerischen Erinnerungsstücken, hauptsächlich Fotografien, konserviert – einzigartige Momente, die im Kontinuum der Zeit eingefroren sind, Momente, die für uns sonst unsichtbar wären. Schnapp!
Atem und Knoten, aber was bedeutet Callibari? Es ist eine Verschmelzung von Kalligrafie, Shibari und künstlerischer Zusammenarbeit. Der vielleicht am wenigsten bekannte der drei Begriffe ist Shibari, der Tanz zwischen Kontrolle und Hingabe oder Zurückhaltung und Freiheit, auch bekannt als Kinbaku, dessen Wurzeln bis ins alte Japan zurückreichen, wo er sowohl als erotische als auch als ästhetische Praxis florierte. Das Wort Shibari selbst bedeutet auf Japanisch „binden“ oder „verschnüren“ und spiegelt damit das Wesen dieser komplexen Kunstform wider, die nicht nur die Wirksamkeit des Bindens, sondern auch die Ästhetik der Knoten und Muster betont. Das empfindliche Gleichgewicht zwischen demjenigen, der bindet (dem Rigger) und demjenigen, der gebunden wird (dem Modell oder dem Hasen), wird zu einer Plattform für Verletzlichkeit und Verbindung. Historisch gesehen wurde diese Methode des Seilbindens nicht nur als eine Form des Vergnügens, sondern auch als Meditation, Entspannung und vertrauensbildende Maßnahme zwischen zwei Partnern verwendet. Callibari erweitert dieses Vertrauen durch die Möglichkeit, verschiedene Kunstformen miteinander zu verbinden, so dass jeder Künstler seine Stärken einbringen und die Arbeit der anderen herausfordern und bereichern kann. Diese fragile Harmonie zwischen den einzelnen Stimmen innerhalb des Kollektivs erfordert einen nuancierten Ansatz, um das Ego auszugleichen und eine echte Zusammenarbeit zu fördern. Letztendlich muss das Publikum selbst abwägen, ob die Vorteile der Zusammenarbeit wirklich zum Tragen kommen oder ob die künstlerische Mischung durch Kompromisse geschwächt werden könnte.
Auf den ersten Blick scheinen Welten zwischen Shibari und Kalligraphie zu liegen, denn das eine hat mit Seilen und Knoten zu tun, das andere mit Strichen und Tinte oder Farbe. Bei näherer Betrachtung lassen sich jedoch tiefe Gemeinsamkeiten, die beide miteinander verbinden, feststellen. Kalligrafie, abgeleitet von den griechischen Wörtern kallos (schön) und graphein (schreiben), ist eine uralte Kunstform, die einen unbestreitbaren Einfluss auf die verschiedensten Kulturen weltweit ausgeübt hat. Vom alten China bis zum modernen Graffiti hat sich die Kalligrafie entwickelt und verkörpert Disziplin, Spiritualität und Selbstdarstellung. Ähnlich wie beim Shibari erfordert sie Präzision, Geschicklichkeit und Hingabe, um Worte in visuelle Poesie zu verwandeln. Pinselstrich!
In beiden Kunstformen ist die Schönheit ein wesentliches Element. Das ist jedoch nicht genug. Die Beherrschung ist ein Muss. Beim Shibari sind es die komplizierten Muster der Seile, die Platzierung der Knoten, die Körpergestaltung und die Einheit zwischen dem Rigger und dem Modell. Bei der Kalligrafie liegt die Meisterschaft in der raffinierten Anwendung einzelner Pinselstriche, den Abständen zwischen den Buchstaben und der Gesamtkomposition, um ein visuell beeindruckendes Ergebnis zu erzielen. Beide haben einen einzigartigen persönlichen Stil und künstlerische Interpretationen, die den Betrachter dazu einladen, sich mit den Emotionen, die in dem Werk zum Ausdruck kommen, zu verbinden. Schließlich bieten sowohl Shibari als auch Kalligrafie reiche kulturelle Geschichten, die sich über Jahrhunderte in verschiedenen Kulturen entwickelt haben, und unterstreichen ihre gemeinsame Bedeutung als Werkzeuge der Tradition und des kulturellen Ausdrucks. Diese analogen Methoden führen uns dazu, langsamer zu werden und zu lernen, mit unseren Sinnen im Augenblick zu sein, während wir in der Ära von Apples Vision Pro und anderen Geräten leben, die uns völlig neue virtuelle Welten schaffen. Callibari bringt auch Menschen zusammen, indem es weit über die vier genannten Mitglieder hinaus zusammenarbeitet. Es gibt Modeschöpfer, Maskenbildner, Sounddesigner, …, die alle die Show – The Callibari Show – zu einem Spektakel machen, bei dem es um tropfende Farbe, Live-Aufhängungen, musikalische Klangwelten und authentische Geschichten geht.
Geschichte der Befreiung: Die Enthüllung des authentischen Selbst
Doch so wie Callibari das Potenzial für eine Befreiung innerhalb der Beschränkung in sich birgt, so hat auch die queere Community kontinuierlich die Verstrickungen, die ihre Mitglieder einzuengen versuchen, entwirrt. Das Streben nach Gleichberechtigung, Akzeptanz und dem Recht, die eigene Identität ohne Hindernisse auszudrücken, ist eine ständige Reise in Richtung Freiheit. Das Spannungsverhältnis zwischen historischen und gesellschaftlichen Zwängen und dem Streben nach Authentizität entspricht dem sorgfältigen Knüpfen und Lösen von Knoten, wodurch ein dynamisches Wechselspiel entsteht, das die Erzählung der Reise eines jeden Einzelnen prägt – ein nuancierter Austausch zwischen Form und Befreiung. Die Befreiung, die viele von uns anstreben, ist nicht als Ablehnung der Form zu verstehen, sondern vielmehr als eine Feier der verschiedenen Formen. Das ist eine Möglichkeit, die Atmosphäre von Callibari zu „lesen“ und in sie einzutauchen. Und obwohl es sich um ein noch junges Kollektiv handelt, das vor allem in Amsterdam zu sehen ist, wo alle Mitglieder derzeit leben, beginnen sie langsam, aber stetig, ein immer größeres Publikum zu beeindrucken und ihre Spuren zu hinterlassen. Das Callibari Collective wird am 29. Juni im Rainbow Center in Luxemburg-Stadt während der Eröffnungsveranstaltung ihrer Ausstellung auftreten. Knoten, Knoten. Wer wird dort sein?
Foto: Ofir Abe