Der neue Pakt zu Migration und Asyl aus dem Jahr 2024 ist der jüngste Versuch der Europäischen Union, die Migration auf dem Kontinent zu regulieren. Er verspricht ein faires und schnelles Verfahren für alle Beteiligten. Allerdings gibt er jedem Akteur Vorrang vor den Migrant:innen, ist sehr verallgemeinernd, selektiv und einschränkend in Bezug auf die Frage, wer, wo und wann handeln kann. Diese reformierte Politik normalisiert Verfahren, die weitreichende Folgen für die Handlungsfähigkeit, das Individuum und seine Würde haben kann. Darüber hinaus betrifft sie queere Migrant:innen und Asylsuchende auf einer ganz anderen Ebene. 

Die gegenwärtige geopolitische Situation

Die „Flüchtlingswelle“ von 2015 beherrschte die Medien und löste einen hitzigen und hasserfüllten öffentlichen Diskurs aus. Während humanitäre Organisationen zu Solidarität und Unterstützung aufriefen, spiegelte die Migrationspolitik die fremdenfeindliche und islamfeindliche Rhetorik rechtspopulistischer Bewegungen wider.

Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015 war ein Wendepunkt für die zunehmend restriktive Migrationspolitik der EU. Ein Beispiel dafür ist das Abkommen zwischen der EU und der Türkei aus dem Jahr 2016, in dem sich die Türkei bereit erklärte, den Zustrom von Migrant:innen auf die griechischen Inseln mit allen Mitteln zu verlangsamen und im Gegenzug 6 Milliarden Euro und Visafreiheit für türkische Staatsangehörige zu erhalten. Wie zu erwarten war, hatte dieses Abkommen einen hohen Preis für die Menschen, die Schutz und Sicherheit suchen und unter grausamen Bedingungen festsitzen. Die EU beabsichtigt, diese Abkommen auf Libyen, Ägypten und Tunesien auszuweiten. Man könnte diese Migrationsstrategie wie folgt zusammenfassen: Geld auf das Problem werfen und gleichzeitig die Augen vor dem Leid tausender Menschen verschließen. 

Die gesamte Situation hat sich nicht verbessert. Die Zahl der Todesopfer auf den Mittelmeerrouten ist seit 2017 gestiegen. Für das Jahr 2023 hat das UNHCR 4110 Tote oder Vermisste registriert. Seit diesem Jahr hat die EU eine weitere Notlösung für die sogenannte „Migrationskrise“ eingeführt, während die meisten Menschen sie als das sehen, was sie ist: eine humanitäre Krise.

Überblick über den Pakt

Es hat neun Jahre gedauert, bis das Europäische Parlament, die Kommission und der EU-Rat zehn Gesetzestexte zur Reform der Migrations- und Asylpolitik der EU verabschiedet haben.

Die reformierte Migrations- und Asylpolitik umfasst Folgendes:

    • Die Verordnung zur Steuerung von Asyl und Migration, die die derzeitige Dublin-Verordnung ersetzen wird
    • Die Verordnung über das Asylverfahren und die Verordnung über das Rückführungsverfahren an der Grenze
    • Eine neue Screening-Verordnung
    • Die Reform der Eurodac-Verordnung, einer EU-Datenbank, in der die biometrischen Daten (Fingerabdrücke und Gesichtsbilder) von Asylbewerber:innen oder Personen, die eine Grenze illegal überschritten haben, gespeichert werden.

Laut der Europäischen Kommission ist der neue Pakt zu Migration und Asyl „ein Bündel neuer Regeln zur Steuerung der Migration und zur Schaffung eines gemeinsamen Asylsystems auf EU-Ebene, das Ergebnisse liefert und gleichzeitig auf unseren europäischen Werten beruht.“ Offenbar habe ich die Notiz verpasst, in dem Menschenwürde und Menschenrechte aus diesen so genannten europäischen Werten gestrichen wurden.

Die neuen Regelungen haben verheerende Auswirkungen. Sie normalisieren das Ausweiten der Inhaftierung – auch von Kindern und Familien -, verstärken die Erstellung von Racial Profiling während des Screening-Prozesses und fördern weitere Verfahren, die die Menschenrechte untergraben.

Wie schnell kann man sagen: „Ich bin queer!“

Nach Angaben von ILGA Europe handelt es sich bei einer beträchtlichen Anzahl von Asylbewerber:innen, die in einem EU-Mitgliedstaat ankommen, um LGBTIQ+-Personen, die vor Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Genderidentität oder ihres Geschlechtsausdrucks sowie ihrer Geschlechtsmerkmale (SOGIESC) fliehen. LGBTIQ+-Asylsuchende sind auf ihrer Reise und bei ihrer Ankunft aufgrund ihres Queer-Seins zusätzlichen Risiken ausgesetzt.

Obwohl es zahlreiche Probleme gibt, die sich auf queere Migrant:innen und Asylsuchende auswirken, möchte ich mich auf zwei Aspekte der Politik konzentrieren: die beschleunigte Überprüfung und die Abschiebungsmechanismen oder -verfahren.

Der Screening-Prozess birgt größere Risiken für LGBTIQ+ Menschen. Der Pakt besagt, dass das Verfahren innerhalb von sieben Tagen durchgeführt werden muss und verschiedene Aspekte umfasst: Identitäts- und Herkunftsprüfung, Gesundheits- und Gefährdungsprüfung, Registrierung in der Eurodac-Datenbank und Überprüfung der nationalen Sicherheit. Der Pakt sieht auch die Einführung einer KI-gestützten Entscheidung vor, die höchst umstritten ist, da sie ein automatisiertes Profiling-System fördert.

Wie kann man die sexuelle Orientierung, die Genderidentität und den Geschlechtsausdruck genau einschätzen oder wie kann man diese zutiefst persönlichen Details oder Aspekte der eigenen Person einer Person vermitteln, die nach einem Grund sucht, ihren Asylantrag abzulehnen? Für die meisten Menschen sind Liebe, Sex und Genderidentität etwas zutiefst Persönliches und mit viel Scham behaftet, vor allem für diejenigen, die deswegen vor Verfolgung fliehen. Von jemandem, der einem den Zugang zu einem vermeintlich besseren Leben verweigern oder ermöglichen kann, unter die Lupe genommen zu werden, macht das Gespräch für einen Geflüchteten äußerst unangenehm. In der Vergangenheit wurden Asylbewerber:innen hochgradig invasiven physischen und psychologischen Untersuchungen unterzogen (einschließlich Phallometrie, vaginaler Photoplethysmographie und pornografischem Bildmaterial), um ihre sexuelle Orientierung zu beweisen. Derartige entwürdigende und traumatisierende medizinische Untersuchungen sind inzwischen vom Europäischen Gerichtshof verboten worden. Nichtsdestotrotz ist es wahrscheinlich, dass der*die Beamt:in, der*die die Untersuchung durchführt, schädliche Stereotypen projiziert, die die Chancen der Asylbewerber:in weiter verschlechtern.

Der Pakt konzentriert sich stark auf die Abschiebung oder, wie der Pakt es ausdrückt, auf „beschleunigte Verfahren“ auf der Grundlage von Listen sicherer Drittstaaten. Der Pakt erlaubt es den Mitgliedstaaten, Asylbewerber:innen auf der Grundlage der von der EU wahrgenommenen Sicherheit ihres Herkunftslandes oder ihrer Verbindung zu einem „sicheren“ Land abzuschieben. Einige Beispiele für Länder auf dieser Liste sind Ghana, Georgien und Marokko, die alle Gesetze gegen LGBTIQ+ Personen haben. Leider ist kein Land für LGBTIQ+ Personen völlig sicher, nicht einmal innerhalb der EU, aber zumindest sollten Asylsuchende Schutz vor staatlicher Verfolgung erwarten können.

Personen, denen der internationale Schutz an der Grenze verweigert wird, können in Gewahrsam genommen werden, wie es im Rückführungsverfahren an der Grenze ratifiziert wurde. Das beschleunigte Verfahren führt zu pauschalen Verallgemeinerungen und lässt die individuelle Situation von Asylbewerber:innen außer Acht. Die Frist von sieben Tagen für das Verfahren macht den Zugang zu einem Rechtsbeistand nahezu unmöglich. Dieser Prozess wird dazu führen, dass mehr Menschen in gefängnisähnlichen Haftanstalten festgehalten werden, wo wiederum LGBTIQ+-Menschen Schikanen und Gewalt ausgesetzt sind. Der Pakt bringt queere Migrant:innen und Asylbewerber:innen in lebensbedrohliche Situationen, da sie ihr Queer-Sein in unsicheren Umgebungen beweisen müssen, was zur Verweigerung von Asyl und einer Abschiebung führen kann.

Die neue Politik wird die illegale Einwanderung nicht verringern. Die Menschen werden reisen und ihr Leben riskieren, solange sie in ihrer Existenz bedroht sind. Die einzige Möglichkeit für die Festung Europa, die Einwanderung einzudämmen, besteht darin, die eigentlichen Ursachen der Migration zu bekämpfen, von denen viele das Ergebnis unseres kapitalistischen, patriarchalischen und neokolonialen Systems sind. Die Ausbeutung der Menschen und ihrer Ressourcen in Verbindung mit dem Waffenhandel der EU-Mitgliedstaaten hat viele Regionen der Welt bestenfalls instabil gemacht.

Die EU hat uns gezeigt, dass sie in der Lage ist, Solidarität zu zeigen, als sie ukrainische Geflüchtete aufnahm. Aber wir alle wissen, dass dieses Mitgefühl davon abhängt, dass der Angreifer als ein großer Bösewicht in der Nachbarschaft dargestellt wird und die Opfer als weiß und christlich wahrgenommen werden.

Wer hat wie abgestimmt?

Im Durchschnitt gab es einige knappe Ergebnisse, wobei manche Bestimmungen mit einer knappen Mehrheit von nur 30 Stimmen verabschiedet wurden: 49 % stimmten dafür, 43 % dagegen, und der Rest enthielt sich oder stimmte gar nicht ab. Bei der Verordnung über das Asylverfahren beispielsweise war die Verteilung 301 Ja-Stimmen, 269 Nein-Stimmen, 51 Enthaltungen und 84 Nichtabstimmungen.

Der Pakt wurde sowohl von linken als auch von rechten Parteien kritisiert. Verstehen Sie mich nicht falsch, die unsinnige Hufeisentheorie ist hier nicht im Spiel. Der Hauptkritikpunkt von Politiker:innen des rechten Spektrums wie Viktor Orbán ist, dass der Pakt nicht weit genug geht, um die EU vor illegaler Einwanderung zu schützen. Die Kritiker:innen aus dem linken Spektrum sagen, der Pakt verletze die Menschenrechte. Dies wurde auch von über 50 Menschenrechtsorganisationen wie Oxfam, Amnesty International und Caritas Europa geäußert.

Nur eine unserer sechs Europaabgeordneten stimmte gegen den Pakt, und zwar Tilly Metz (déi gréng). Unser anderer LGBTIQ+-Abgeordneter Marc Angel (LSAP) erklärte öffentlich auf Twitter, dass er trotz seiner Vorbehalte für den Pakt gestimmt habe. Hoffentlich verstehen queere Migrant:innen und Asylsuchende die Zweifel, die er angesichts der entmenschlichenden Verfahren, denen sie ausgesetzt sein werden, hatte, bevor er dafür stimmte.