© Joël Seiller

Historically Queer

In dieser Kolumne blicken wir auf queere Geschichte(n) zurück, sowohl auf persönliche Anekdoten, wie auch auf das Zeitgeschehen.
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Es gibt ein Familienmitglied, dessen Geschichte mir schon seit Jahren im Kopf herumschwirrt: Mein Großonkel Nicolas. Er starb, als ich 19 Jahre alt war. Damals, kurz nach seinem Tod, erzählte man mir seine ganze Lebensgeschichte, mit all den Teilen, die man mir bis dahin verschwiegen hatte. Mir war nicht klar, wie sehr mich sein Schicksal noch bis heute beschäftigen würde.

Nicolas kam Anfang des 20. Jahrhundert zur Welt, als das zweite von fünf Geschwistern (zwei Mädchen, drei Jungen) und der älteste Bruder meiner Großmutter. Da er der erstgeborene Sohn war, sollte er, wie der Brauch es wollte, den Familienbetrieb, eine kleine Schreinerei, übernehmen. Ob er sie wirklich wollte, weiß ich nicht so genau, da es lange sein Wunsch war, Priester zu werden und ins Kloster zu gehen. Doch er fügte sich. Er fügte sich, wie in vielen Dingen seines Lebens.

Als ich zur Welt kam, lebten bereits zwei der fünf Geschwister nicht mehr. Josy, der jüngste Bruder, war an einem Sonntagnachmittag während eines Picknicks im Fluss ertrunken; ihm war beim Baden schlecht geworden. Man fischte ihn erst Tage später aus einer Böschung, ein paar Kilometer weiter.
Ich durfte späterhin nie nach dem Mittagessen ins Planschbecken, das mein Vater im Sommer im Garten aufstellte, sondern musste mindestens drei bis vier Stunden warten. Für mich, als kleiner Junge, der nur spielen wollte, war es eine Qual, bei der oft aus Enttäuschung, bittere Tränen flossen.

Der andere Bruder, Jängi, verstarb ebenfalls früher als erwartet. Sein Tod sollte ebenfalls ein sehr einschneidendes Erlebnis für Nicolas werden, da er mitten in einem eiskalten Winter starb und das Grab nicht aus dem steinhart gefrorenen Boden ausgehoben werden konnte. Erst im Frühling wurde das Loch auf dem Friedhof gebuddelt und die sterblichen Überreste beigesetzt. Die Frau von Jängi bat Nicolas damals, bei der Öffnung des Sarges dabei zu sein (damit man feststellen konnte, dass die richtige Leiche in das richtige Grab kam) und ein Familienmitglied bei dieser Prozedur beiwohnen musste. Sie selbst hätte es nicht gekonnt. Onkel Nicolas hat oft davon erzählt, wie schrecklich der Gestank war und wie aufgeblasen der Körper von Jängi aussah. Der Totengräber reichte ihm anschließend wortlos einen Flachmann mit Schnaps, da Nicolas’ Gesicht weiß wie ein Bettlaken war.

Zwischen den beiden Weltkriegen lernte Nicolas seine erste große Liebe kennen. Sie hieß Josiane und stammte aus einer Familie, die um einiges reicher war als Nicolas, mit seiner kleinen Schreinerei. Josiane und Nicolas liebten sich und wollten heiraten. Seitens Josianes Familie war man nicht gegen eine Heirat. Doch Josiane hatte einen Bruder, der schwul war. Es war kein Geheimnis, doch man erzählte es sich nur hinter vorgehaltener Hand. Als Nicolas’ Vater (mein Urgroßvater) dies erfuhr, was es das Aus. Nicolas musste die Beziehung mit Josiane beenden. Der Vater hatte nichts gegen Josiane selbst, doch was wäre, wenn sie Kinder bekämen. Josiane trug schließlich dieses ‚Gen‘ in sich und womöglich würden ihre Kinder auch ‘so’ werden …

Und Nicolas fügte sich.

Er muss sehr enttäuscht und wütend gewesen sein. Doch rächte er sich auf seine Art an seinem Vater. Er sorgte dafür, dass der Familienname und die Schreinerei keine Erben haben würden. Nach Josiane sah er nie wieder eine andere Frau an. Wenn er sie nicht haben konnte, dann gar keine. Nicolas wurde zu einem verbitterten Junggesellen. Als er dann Josiane hätte haben können, nach dem Tod seiner Eltern, hatte Josiane bereits jemand anders geheiratet.

Wenn ich heute daran zurückdenke, macht es mich wütend und traurig zugleich.

Alles was Nicolas an Zuneigung und Liebe geben konnte, ging an seine beiden Nichten, meine Mutter und ihre Schwester. Der letzte große Auftrag der Schreinerei war der Dachstuhl meines Elternhauses, für den Nicolas keinen Cent haben wollte.

Kurz nach der Fertigstellung des Dachstuhls ging er in Rente. Ab da beginnen meine Erinnerungen an ihn. Ich kannte ihn nur als alten Mann, der im Sessel saß und keinen Finger mehr krumm machte. Er rostete regelrecht ein. Die älteste Schwester, die ebenfalls nicht geheiratet hatte, kümmerte sich um seinen Haushalt.

Wenn ich als kleiner Knirps mit drei, vier Jahren bei Großmutter zu Besuch war, gingen wir ab und zu in den Park mit dem kleinen Spielplatz spazieren. Das war einer der seltenen, guten Momente. Später empfand ich ihn nur noch als missmutig, schlecht gelaunt, grantig und ohne Lebensfreude. Doch ich verstand nie, warum das so war und alle ihn immer in Schutz nahmen, wenn er mich anschnauzte und ich mich zur Wehr setzen wollte.

Er starb 1985 an einem Sonntag im Sommer in einem Altenheim in der Hauptstadt. Er hatte in späten Jahren noch eine Amputation von einem Fuß über sich ergehen lassen müssen und war nach dieser schweren OP nicht mehr klar bei Verstand.

Ich fuhr zusammen mit meiner Mutter, meiner Großtante und meiner Großmutter hin, um ihn ein letztes Mal zu sehen. Beide Schwestern brachen unter Tränen zusammen, als sie ihn sahen. Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben einen Toten. Im Nachttisch entdeckte meine Mutter seine Brieftasche und suchte nach seinem Ausweis, den sie für den Totenschein brauchte. In einem Seitenfach fand sie das Passfoto einer mir unbekannten Frau. “Das ist Josiane”, sagte sie. “Mein Gott, er hatte über all die Jahre immer ein Foto von ihr!”

Und so erfuhr ich ein paar Tage später in einem vertraulichen Gespräch von seinem Schicksal.

Wenn ich heute daran zurückdenke, macht es mich wütend und traurig zugleich. Die damaligen gesellschaftlichen und familiären Zwänge waren strikt. Warum hat sich Nicolas nie zur Wehr gesetzt? Was ist mit dem Bruder seiner Freundin passiert? Hat er den Zweiten Weltkrieg überlebt? Kam er in ein Konzentrationslager?

Ist diese Geschichte mit ein Grund, warum ich mein komplettes Coming-out erst in meinen späten 40ern hatte? Ich wusste schon als kleiner Knirps, warum ich ein Poster von Tarzan in meinem Schlafzimmer hängen hatte. Nicht weil ich ihn als Held der Wildnis bewunderte, sondern weil ich ihn sexy fand – mal davon abgesehen, dass ich damals das Wort ‚sexy‘ gar nicht kannte. Heute ist es zu spät für Fragen, denn es lebt niemand mehr von meiner Familie.