Im Mai 2024 veröffentlichte die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) die Ergebnisse einer Umfrage über das Wohlbefinden von LGBTIQ+ Personen. Die Befragten aus Luxemburg gaben an, dass 68 % von ihnen in der Schule aufgrund ihrer queeren Identität unter Mobbing, Spott, Hänseleien, Beleidigungen und/oder Drohungen zu leiden hatten. Das sind mehr als zwei von drei LGBTIQ+-Personen, die solchen Misshandlungen ausgesetzt waren. Diese Zahlen spiegeln die Erfahrungen verschiedener Altersgruppen wider und geben möglicherweise nicht genau die aktuellen Trends wieder, aber die FRA befragte speziell die derzeitigen Schüler*innen nach ihren Erfahrungen. Fast die Hälfte (44 %) der Befragten gab an, ihre Identität in der Schule immer noch zu verbergen. Olivia, eine Gymnasiastin, war hiervon nicht überrascht. „Ich gehöre zu diesen Menschen. Ich habe Angst, es den Leuten in der Schule zu sagen“, gibt sie zu.
Sie ziehen es vor, ihre Queerness für sich zu behalten
Olivia, die jetzt das letzte Jahr der High School an einer internationalen Schule besucht, zog im Alter von elf Jahren mit ihrer Familie aus den USA nach Luxemburg. Sie spricht mit großer Klarheit über ihre psychische Gesundheit als queere Schülerin und erklärt, dass sie aufgrund früherer Erfahrungen gezögert hat, ihre queere Identität in der Schule zu offenbaren. Vor drei Jahren war Olivia Opfer von Mobbing. „Ein paar Jahre lang wurde ich mit einem Schimpfwort beschimpft, das dann zu einem Spitznamen wurde“, erzählt Olivia, “das Schimpfwort bezog sich auf meine Sexualität und auf mein Aussehen. Es wurde von vielen Leuten in meiner Schule benutzt und speziell von dieser einen Person, da sie in vielen meiner Klassen war“. Olivia erklärt, dass sie sich in der Schule immer unwohl gefühlt hat. Das Mobbing hat zwar nachgelassen, aber die Person ist nach wie vor an ihrer Schule und besucht immer noch einige Klassen mit ihr. „Ich muss mit dem Wissen leben, dass ‚du dich wahrscheinlich gar nicht daran erinnerst, aber es hat einen großen Teil von dem beeinflusst, was ich bin‘.“
Olivia hat niemandem von dem Mobbing erzählt, bis sie sich in diesem Sommer ihren Eltern und später ihrer*ihrem besten Freund*in gegenüber öffnete. Damals, als es passierte, „habe ich versucht, darüber zu lachen und Teil des Witzes zu werden“, erklärt sie. „Ich habe mir keine Hilfe gesucht, weil ich es einfach wegschieben wollte. Ich wollte mit niemandem darüber reden. Ich wollte es nicht wahrhaben“. Rückblickend stellt Olivia fest, dass ihre psychische Verfassung ihr das Gefühl gab, die schlechte Behandlung irgendwie verdient zu haben. Um sich zu schützen, begann sie, ihre Selbstdarstellung einzuschränken. „Ich versuche jetzt, mich anzupassen, um die ganze Aufmerksamkeit zu vermeiden“, erzählt sie.
Dies hat sich jedoch geändert, seit Olivia durch eine Therapie mehr Unterstützung für ihre mentale Gesundheit erhalten hat. „Außerhalb der Schule Unterstützung zu bekommen, hat mir sehr geholfen. Ich persönlich habe mich anfangs nicht wohl dabei gefühlt, dort Hilfe zu suchen, wo der Vorfall passiert ist.“ Nachdem sie eine Therapie gemacht hat, sagt sie, dass sie jetzt den Wert der schulinternen Unterstützung erkennt, da die Ressourcen in der Schule die Besonderheiten der Arbeitsweise der Schule kennen und sie auf einer noch konkreteren Ebene auf ihrem Weg unterstützen können. Olivia weiß: „Es ist schon schwierig genug, durch die Schule zu gehen. Wenn man jemanden hat, der für einen da ist, ist es viel einfacher, als wenn man es allein durchsteht“.
Queer und neurodivergent
Bellamy, der*die letztes Jahr seinen*ihren Abschluss an einer öffentlichen Sekundarschule in Luxemburg-Stadt gemacht hat, ist nicht überrascht von den Statistiken, die zeigen, dass fast die Hälfte der Schüler*innen ihr Queer-Sein in der Schule verbergen. Nach einem Jahr Pause, in dem they sich auf politischen Aktivismus konzentrierte, beginnt Bellamy nun ein Bachelor-Studium der Naturwissenschaften im Ausland. „Es gibt so viel Mobbing in Schulen, auch abseits von queeren Identitäten“, erklärt they und fügt hinzu, dass sichtbar queere Menschen oft ein ‚leichtes Ziel‘ werden können. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2022 suchen durchschnittlich sechs Schüler*innen pro Tag und pro Gymnasium Hilfe beim SePAS (Service psycho-social et d’accompagnement scolaires), dem Dienst zur Unterstützung der psychischen Gesundheit an öffentlichen Sekundarschulen. Mobbing steht an vierter Stelle der Gründe für das Aufsuchen von Hilfe, nach Stress, Depressionen und Angstzuständen.
Obwohl deren Erfahrungen ganz anders waren als die von Olivia, war auch Bellamys Geschichte mit Schwierigkeiten verbunden. „Ich hatte Schwierigkeiten, mich anzupassen, sogar in der Grundschule“, erinnert they sich. “Ich war 10 oder 11, als ich zum ersten Mal Gefühle für ein Mädchen hatte, und ich verstand das damals nicht.” Bellamy beschreibt sich selbst als ein unsicheres Kind. „Ich passte auch nicht in diese Geschlechtertrennung und das verwirrte mich. Ich hatte keine Worte, um meine Erfahrungen zu verstehen oder darüber zu sprechen. Ich habe mich ständig gefragt, warum es allen gelingt, in diese Erwartungen zu passen, und mir nicht?“ Ihre Familie hatte größtenteils keine Ahnung von queeren Identitäten und Bildung über queere Identitäten. Folglich fühlte they sich bei der Suche nach deren Sexualität und deren Gender allein gelassen.
Zusätzlich zu deren queeren Identität ist Bellamy neurodivergent. Neurodiversität bezieht sich auf eine atypische Gehirnentwicklung, zu der auch Autismus, Legasthenie und ADHS gehören. Da sich deren Geschlecht und deren Sexualität von denen in deren Umgebung unterschieden, begann they, deren Umgebung zu „spiegeln“, um mit den Erwartungen von Angehörigen zurechtzukommen und auch um Freund*innen zu finden. Heute weiß they, dass dies eine sehr häufige Reaktion für neurodiverse Menschen in einer Umgebung ist, die neurodiverse Kinder und Jugendliche nicht versteht oder ihnen nicht entgegenkommt. „Die Leute fragten: ‚Oh, wen imitierst du jetzt?‘ und ‚Warum kannst du nicht einfach du selbst sein?‘, aber ich wusste ehrlich gesagt nicht, wie“, sagt they. Solche Kommentare waren verletzend und verwirrend für Bellamy. Mit Ausnahme eine*r Freund*in, die*der bis heute deren beste*r Freund*in ist, blieb they während dieser Jahre weitgehend freundschaftslos und fand erst in den letzten Jahren der High School zu deren sozialem Umfeld.
Bellamy war sich des SePAS bewusst – „aber es ist, als würde man jemandem ein Buch geben, der nicht lesen kann“, erklärt Bellamy deren Kampf. They musste erst einmal verstehen, was vor sich ging, bevor they erkannte, dass diese Ressourcen hätten helfen können. „Mir fehlten die Worte, um mich zu erklären.“ Bellamy betont, dass die Sprache und damit die Bildung für they ein zentrales Thema sind. „Wenn einem die Worte fehlen, hat man nicht die Möglichkeit, seine Gefühle, sich selbst, aber auch die Welt um sich herum zu verstehen.“ Nach der zusätzlichen psychischen Belastung durch die COVID-19-Pandemie hatte Bellamy mit Depressionen zu kämpfen. „Zu diesem Zeitpunkt reichte die Unterstützung durch meine Familie und SePAS nicht mehr aus – ich musste eine Therapie machen.“ They ist sehr dankbar, dass deren Familie bei der Therapie und auf dem Weg zur psychischen Gesundheit mitgeholfen hat.
Queere Bildung, innerhalb und außerhalb der Schule
Bellamy fand ein erstes Gefühl der Gemeinschaft in der späten Sekundarstufe. Nach dem US-Wahlkampf 2016 zwischen Hillary Clinton und Donald Trump begann Bellamy, sich für Politik zu interessieren und sich über soziale Medien und Nachrichten zu informieren. Als they sich auf eigene Faust über Politik informierte, stieß they zum ersten Mal auf das Wort „nonbinary“. Das Zusammentreffen mit anderen nicht-binären Student*innen festigte Bellamys Verständnis für die eigene Identität. Allerdings bedauert they den Mangel an queerer Bildung in luxemburgischen Schulen. „Wir hatten einen Kurs in Englisch, in dem queere Themen behandelt wurden, aber ich habe ihn verpasst, weil ich krank war“, bemerkt they.
Im Biologieunterricht von Bellamy standen intergeschlechtliche Variationen auf dem Lehrplan, aber nur als ein benannter Fall ohne Kontextualisierung. „Das Wort ‚Intersex‘ fiel eigentlich nie und wir sprachen darüber im Zusammenhang mit genetischen Störungen und Mutationen. Es stand einfach auf einer Liste mit Trisomie 21.“ Als genderqueere Person bedauert Bellamy, dass Gender und Geschlecht nie als ein Spektrum erklärt wurden und Genderqueeress als „eine sexuelle Anomalie“ dargestellt wurde. They wandte sich an den Lehrer und fragte, ob sie in diesem Zusammenhang über Trans-Personen sprechen könnten. „Mein Lehrer antwortete, dass wir in der nächsten Woche darüber sprechen würden, und eine Woche später sprachen wir dann tatsächlich über genetische Mutationen. Er hatte anscheinend keine Ahnung, was trans überhaupt bedeutet“. Bellamys Erfahrungen ähneln in gewisser Weise denen der meisten luxemburgischen LGBTIQ+-Personen, denn zwei von drei (66 %) gaben in der FRA-Umfrage an, dass in ihrer Ausbildung in Luxemburg LGBTIQ+-Themen nie behandelt wurden. Für Bellamy ist klar, dass „dies ein klares Versagen des Bildungssystems ist“.
Gymnasien als sicherere Räume?
35% der LGBTIQ+ Schüler*innen gaben in der FRA-Umfrage an, dass jemand in der Schule oft oder immer ihre Rechte als LGBTIQ+ Person unterstützt, verteidigt oder schützt. Auch wenn Olivia und Bellamy von den Herausforderungen als queere Highschool-Schüler*innen sprechen, spiegelt sich dieses Muster auch in den Erfahrungen der beiden befragten Schüler*innen wider.
Olivia gehört sogar zu den Menschen, die LGBTIQ+ Personen an ihrer Schule aktiv unterstützen. Sie ist Mitglied des Ausschusses für Vielfalt, Integration, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit der Schule. Der Ausschuss setzt sich aus rund 50 Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern zusammen und will durch Veranstaltungen zur psychischen Gesundheit und Pride-Aktivitäten ein sichereres Umfeld schaffen. „An meiner Schule gibt es auch eine Gay-Straight Alliance“, sagt Olivia stolz, obwohl sie selbst nicht Mitglied des Clubs ist und schnell feststellt, dass “er ziemlich klein ist… weil die Leute ein bisschen Angst haben, hinzugehen. Ihr wisst ja, es ist eine High School“. Eine Initiative, die Olivia besonders berührte, war, dass ihre Schule in den Fluren Regenbogenfahnen mit der Aufschrift „Du gehörst hierher“ aufgehängt hat. „Auch wenn ich meine queere Identität nicht offen ausspreche, fühle ich mich durch diese kleinen Dinge in diesem Raum willkommener. Das macht für mich einen großen Unterschied.“
Auch das offen queere Schulpersonal hat bei den beiden Schüler*innen einen Eindruck hinterlassen. Bellamy spricht von einem queeren Geschichtslehrer, der sich am ersten Unterrichtstag als schwul vorstellte, und ein*er Surveillant*e, ein*er Vertretungslehrer*in, die*der jeden Tag Regenbogen-Accessoires wie Ohrringe, T-Shirts oder Socken trug. „Es hat mich einfach glücklich gemacht, sie zu sehen und zu sehen, dass es auch keine Konfrontationen darüber gab.“ Obwohl es immer noch viele Herausforderungen für genderqueere Menschen gibt, hat Bellamys High School jetzt auch eine geschlechtsneutrale Umkleidekabine für den Sportunterricht. Im letzten Schuljahr begann Bellamy auch, sich für geschlechtsneutrale Toiletten auf dem Campus einzusetzen, allerdings ohne Erfolg. In einem E-Mail-Interview wies das Bildungsministerium darauf hin, dass es sich an acht verschiedenen Sekundarschulen, die bald neue Gebäude bauen werden, für die Einrichtung geschlechtsneutraler Toiletten eingesetzt hat.
Systemische Fragen
Fortuna ist Sozialpädagogin und diplomierte Jugendarbeiterin. Sie hat zunächst als Surveillante und später in einem SePAS-Team an zwei verschiedenen öffentlichen Gymnasien in Luxemburg gearbeitet. Im SePAS-Team war sie für die Unterstützung von Schüler*innen bei der Stressbewältigung und Zukunftsplanung zuständig und arbeitete auch an einigen Sensibilisierungskampagnen mit, insbesondere an einer Kampagne für Menschen mit Behinderungen. Fortuna versteht, warum sich Schüler*innen mit den SePAS- Angeboten vielleicht nicht wohl fühlen.
„Um ganz ehrlich zu sein, war ich die einzige junge Person ohne Lebenspartner*in im Büro. Auch ich war mir nicht sicher, wie wohl ich mich in meinem Team fühlen würde“, erklärt Fortuna, “und auch bei den Lehrer*innen. Ich würde sagen, dass die meisten Lehrer*innen eher traditionelle Ansichten haben. Ich habe von Schüler*innen von Fällen gehört, in denen ein*e Lehrer*in in abfälliger Weise sagte: ‚Bist du schwul?‘. Es gibt zwar Fortbildungen für das Schulpersonal zu queeren Themen, aber diese sind nicht verpflichtend. Nach Angaben des Bildungsministeriums wird das Centre psychosocial et d’accompagnement scolaires ab 2025 einen Leitfaden für luxemburgisches Schulpersonal zur Unterstützung von Trans-Schüler*innen veröffentlichen. Es gibt also Ressourcen und sie werden immer wieder geschaffen, aber es bleibt die Frage, ob das Schulpersonal sie auch nutzt.
Für Fortuna war es wichtig, „sichtbar zu zeigen, dass ich zumindest eine Verbündete bin“, da sie die Regenbogenfarben immer irgendwo in ihrem Outfit trug. In den Pausen stellte sich Fortuna gelegentlich Schüler*innen als SePAS-Mitarbeiterin vor – um ihnen die anfänglichen Berührungsängste zu nehmen. Das SePAS-Büro, in dem Fortuna arbeitete, befand sich außerhalb des Hauptgebäudes hinter dem Medien- und Musikraum der Schule, so dass die Schüler*innen, die das Angebot in Anspruch nehmen wollten, nicht der Öffentlichkeit ausgesetzt waren. Ähnlich verhielt es sich bei Olivias und Bellamys Schule.
Die Realität der Ressourcen zur Förderung der mentalen Gesundheit in öffentlichen Schulen
Die SePAS-Beratungen finden in der Regel während der unterrichtsfreien Zeit statt, um Störungen zu vermeiden, obwohl die Schüler*innen jederzeit vorbeikommen können. Die Beratungssitzung beginnt mit einer grundlegenden Beurteilung, z. B. ob die betreffende Person gut isst und schläft, bevor auf persönlichere und komplexere Fragen eingegangen wird. Das Gespräch, das bis zu 45 Minuten dauert, ist ein wichtiger Schritt, um Vertrauen aufzubauen. Nach der Sitzung können die Schüler*innen selbst entscheiden, ob sie wiederkommen oder nicht, was die Selbstbestimmung als zentrales Element der SePAS-Arbeit unterstreicht.
Zu betonen ist, dass keine Informationen, die ein*e Schüler*in einem*r SePAS-Mitarbeiter*in anvertraut, an Personen außerhalb des Teams weitergegeben werden, solange der*die Schüler*in nicht in unmittelbarer Gefahr ist oder der*die Schüler*in nicht ausdrücklich seine*ihre Zustimmung gegeben hat. Der SePAS kennt also das Schulsystem sehr gut, ist in den Schulapparat eingebettet (z. B. ist der SePAS bei jedem Klassenrat anwesend) und kann so die Schüler*innen auf einzigartige Weise unterstützen. Wenn die Schüler*innen es wünschen, können auch die Eltern an den Sitzungen ihrer Kinder mit dem SePAS teilnehmen – und die Eltern können sich auch unabhängig davon an den SePAS wenden, wenn sie selbst Fragen haben.
Obwohl queere Schüler*innen immer noch mit großen Herausforderungen konfrontiert sind, bleibt Fortuna hoffnungsvoll. „Es gibt immer noch ein Stigma, aber ich glaube, die Dinge ändern sich langsam. Die Menschen fangen an, das Thema mentale Gesundheit ernster zu nehmen.“
Foto: Giulia Thinnes
Artikel aus dem Englischen übersetzt