Was ist das Sexpowerment-Projekt?

Sexpowerment ist ein Projekt zur Entwicklung und Förderung von Instrumenten zur Aufklärung über das affektive und sexuelle Leben (EVAS), die die kulturelle Vielfalt in ihren verschiedenen Formen berücksichtigen. Zweieinhalb Jahre lang arbeiten fünf europäische Organisationen (in Frankreich, Belgien und Luxemburg) gemeinsam an der Entwicklung von spielerischem, partizipativem Unterrichtsmaterial, das möglichst viele Menschen anspricht.

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die mit dem Gefühls- und Sexualleben (FSL) verbundenen Normen je nach Kultur, Tradition und Gesellschaft variieren können, erforschen wir die Überschneidung von Intimität, Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierung. Unser Ziel ist es, die Emanzipation und Entfaltung junger Menschen in ihrem FSL unabhängig von ihren sozialen und kulturellen Identitäten zu fördern.

Das Projekt richtet sich also an die Jugend, um eine positive und emanzipatorische FSL zu fördern, aber auch an die Fachkräfte, die sie begleiten, damit sie sich gestärkt und ausgerüstet fühlen, um die Herausforderungen, denen sie vor Ort begegnen, zu meistern.

Bisher umfasst das Projekt einen Podcast mit zehn Episoden sowie einen Leitfaden. Im Folgenden könnt ihr eine gekürzte Version des Kapitels über die Erziehung zum Beziehungs-, Gefühls- und Sexualleben und zur Interkulturalität lesen. Für weitere Informationen könnt ihr gerne den folgenden QR-Code scannen:

Die Erziehung zum Beziehungs-, Gefühls- und Sexualleben im interkulturellen Kontext: zwischen Sexismus, Homophobie und Rassismus.

Für 4motion, Lynn Hautus, Sozialarbeiterin.

Obwohl die Werte und Prinzipien der Inklusion und der Chancengleichheit in den Interventionen der Erziehung zum Beziehungs-, Gefühls- und Sexualleben im interkulturellen Kontext (EVAS) respektiert werden sollten, indem der Rahmen für die Arbeit mit den Jugendlichen gesetzt wird, kommt es immer wieder vor, dass die Betreuer:innen mit diskriminierenden Situationen umgehen müssen. Abgesehen davon, dass diese Situationen für manche emotional schwierig zu bewältigen sind, stellen wir uns auch die Frage, in welchen Kontexten, d. h. „Lebenswelten“ der Jugendlichen, eine EVAS mehr oder weniger günstig ist, zwischen Pädagog:innen und Jugendlichen oder zwischen Gleichaltrigen.

Die Konzepte der Inklusion und der Chancengleichheit gehören zu den Prinzipien der Sozialarbeit und sind gleichzeitig immer auch Ziele. Damit befinden wir uns bereits im Spannungsfeld, da EVAS einen inklusiven und gleichberechtigten Arbeitsrahmen benötigt, um mit den Jugendlichen an tabuisierten Themen, die oft mit Diskriminierung verbunden sind, zu arbeiten. In den verschiedenen Interviews, die wir geführt haben, berichteten alle EVAS-Profis/Referent:innen über Schwierigkeiten im Umgang mit homophoben Äußerungen von Jugendlichen während ihrer Interventionen. Junge Referent:innen/Studierende können besonders schockiert sein, wenn sie zum ersten Mal hasserfüllte Äußerungen hören. Dies gilt umso mehr, wenn sie selbst Teil der queeren Community sind.

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Diskriminierungserfahrungen junger Erwachsener im Laufe ihres Lebens im Zusammenhang mit Vielfalt

Die Teilnehmenden der Diskussionsrunde berichten, wo sie aufgewachsen sind und wann und wie sie nach Luxemburg gekommen sind. Alle drei berichten auch, dass sie sich anders als die anderen fühlen und dass der Blick, den andere auf sie werfen, für sie wichtig ist.

„Es tut weh, besonders wenn man ein Kind ist, weil es keinen Filter gibt. Die Kinder waren gemein zu Kindern, die „anders“ waren.” Andreson Rocha wuchs mit dem Gefühl auf, anders zu sein als die Gesellschaft und damit die anderen Kinder es von ihm erwarteten. Erst als er älter wurde, erkannte er, dass es ungerecht ist, dieses Gefühl der Ausgrenzung zu haben. Wenn Lebensformen, darunter bestimmte sexuelle Orientierungen, stigmatisiert, tabuisiert und diskriminiert werden, was Kinder z. B. in den Medien, aber auch in ihrem familiären Umfeld und in Kontexten unter Gleichaltrigen beobachten können, hat dies zur Folge, dass sich die Menschen verschließen, bis sie eine Vertrauensperson haben, mit der sie darüber sprechen können. Wenn Kinder in der Erziehung nicht über Vielfalt lernen, können sie sie auch nicht verstehen. Vor allem im familiären und schulischen Umfeld hat er Diskriminierungen erlebt. Aber er nimmt sie auch in der Gesellschaft als Ganzes wahr, durch Kommentare wie „Was machst du hier?”

Cintia Almeida berichtet von ihren Erfahrungen mit Ausgrenzung in der Schule, die sie bereits in jungen Jahren in Rotterdam gemacht hat, als Kinder mit Migrationshintergrund von in den Niederlanden geborenen Kindern getrennt wurden. Nach ihrer Ankunft in Luxemburg machte sie eine weitere Erfahrung in einer Willkommensklasse, in der sie feststellte, dass alle Jugendlichen das Gleiche erlebten. „Wir kannten die Sprache nicht (…) In einer Gemeinschaft zu sein, um eine bessere Integration und Einbeziehung zu haben, war die einzige Option.“ Sexualerziehung war in der Schule Pflicht und sie bedauert, dass der Unterricht auf die Beschreibung der weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane reduziert wurde. Es gab keine Vermittlung von Vielfalt. Laut Cintia A. muss man in EVAS kulturelle Unterschiede und unterschiedliche Lebenserfahrungen berücksichtigen und lernen, sich in die Lage des anderen zu versetzen.

Rafael Lopes Vieira, der wie Andreson R. aus Brasilien stammt, erklärt uns, dass Brasilien sehr offen für einen Dialog über Geschlecht ist, eine geschlechtliche Vielfalt aber nicht wirklich akzeptiert wird. Sein „sehr homophober“ Vater, sein „transsexueller“ (†) Bruder und seine „offenere“ Mutter haben den Werdegang des jungen Mannes geprägt. Als er mit 14 Jahren nach Luxemburg kam, „habe ich meiner Mutter gesagt, dass ich bi bin.“ Sein Bruder öffnete ihm die Türen, um seine Sexualität zu erforschen, und danach entdeckte er sich selbst als Künstler, was ihm sehr dabei half, seine Vielfalt zu leben. „Als ich meine Weiblichkeit etwas mehr gezeigt habe, wurde ich auf der Straße viel verurteilt“, aber […] „Man darf sich nie alles gefallen lassen und muss für seine Rechte kämpfen.“ Er glaubt, dass die Menschen heute viel offener sind.

EVAS in der Schule – Inklusiver Rahmen?

Rafael L.V. merkt an, dass er am meisten unter den Erzieher:innen gelitten hat. Er hat keine positiven Erfahrungen gemacht, weder im Rahmen einer formalen noch einer non formalen Bildung. Die Feststellung dieses jungen Mannes zeigt uns, dass die Haltung des Betreuungspersonals im Rahmen von EVAS sogar dominieren kann.

Laut Andreson R. wird es immer Menschen, die sich wohler dabei fühlen, über ihre sexuelle Orientierung oder über Themen, die mehr tabuisiert werden,  zu sprechen, als andere, geben. Und es gibt andere Jugendliche, die an ihre Umgebung (Gruppe der Gleichaltrigen) denken werden, was sie unter Druck setzen und daran hindern könnte, frei zu sprechen. „[…] Im Schulkontext ist die Teilnahme  an Workshops über Sexualerziehung und Gefühlsleben obligatorisch. Oft ist das schwierig, und man hat nicht unbedingt Lust, seine Ansichten mit Lehrern oder anderen Schülern zu teilen.“ Generell ist er der Meinung, dass man Personen niemals zum Reden oder zur Beteiligung an der Diskussion zwingen sollte, weder im Unterricht noch an anderen Orten. Dennoch scheint ihm Erziehung eine Notwendigkeit. So fragt er sich, wie der Rahmen angepasst werden muss, um das Sprechen zu erleichtern, zu schützen und den freien Austausch mit Respekt für jeden Einzelnen zu fördern.

Laut Andreson R. und Cintia A. gibt es einige grundlegende Informationen, die von den Pädagog:innen vermittelt werden müssen, um die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu fördern, Diskriminierungen abzubauen und so neue Leitbilder zu schaffen. „Ein Mädchen in der Klasse sagte, dass mehr über die LGBTQIA+ Gemeinschaft gesprochen werden sollte, weil in ihrer Klasse zum Beispiel das Wort „schwul“ immer noch als Beleidigung verwendet wird und eine Gruppe von Schülern herabgesetzt wird, weil sie anders ist, zum Beispiel ein Junge, der sich die Fingernägel lackiert.“

Im Gesprächskreis sagte ein Jugendlicher, dass er Schwule nicht akzeptieren könne und sie nicht in seiner Nähe haben wolle, und er wurde wütend. “Die Jugendlichen fingen an zu streiten und einige machten sehr homophobe Bemerkungen“, erklärt uns die Peer-to-Peer-Betreuerin Ivana Vujovic. Dieses Beispiel, das im EVAS-Kontext recht häufig vorkommt, zeigt die Realität vor Ort und zwischen den Jugendlichen. In einem anderen Interview berichtet ein:e EVAS-Pädagog:in, der:die im LGBTIQ+-Zentrum Cigale in Luxemburg arbeitet, von einem ähnlichen Beispiel. Während eines Workshops lehnte ein Jugendlicher homosexuelle Beziehungen, die Existenz homosexueller Menschen und die Akzeptanz ihrer Existenz radikal ab. Er verwies auf seine Erziehung (die er von seinen Eltern erhalten hatte) und die Religion, die Homosexualität als Sünde ansieht. Der:die Betreuer:in erklärte die verschiedenen sexuellen Identitäten, aber der Jugendliche blieb bei seinen Aussagen und ein Dialog war nicht möglich. In diesem Fall stand der:die Betreuer:in ohne Hilfe da und dey sagt, dass es hilfreich gewesen wäre, andere Instrumente zu haben, um den Dialog zu eröffnen oder sogar eine Möglichkeit, einen solchen Gegensatz gar nicht erst entstehen zu lassen.

Zunächst einmal muss man sagen, dass EVAS in den meisten Schulen und Gymnasien nicht im Lehrplan vorgesehen ist. „Wir führen externe Interventionen durch. Der Kontext der Interventionen ist nicht immer klar definiert, und es ist zum Beispiel nicht klar, ob die Anwesenheit der Lehrkraft/Erzieher:in vorgesehen oder erwünscht ist. Wenn eine Lehrkraft oder Erzieher:in anwesend ist, entwickelt sich eine andere Dynamik mit den Schüler:innen. Dies ist entscheidend, wenn man partizipative und integrative Workshops anbietet“, so Elsa Fischbach, EVAS-Pädagog:in aus Luxemburg.

Cintia A. meint, dass bestimmte Aspekte Teil der EVAS sein sollten, damit alle Jugendlichen Zugang zu denselben Inhalten in ihrem Schulcurriculum haben, wie z. B. Informationen über den monatlichen Zyklus bei Menschen mit einer Vulva. Daneben sollten in der Schule Diskussionsräume geschaffen werden, z. B. während der Pause, in denen sich Jugendliche, die mehr Interesse haben, austauschen und gemeinsam nach Antworten auf ihre Fragen suchen können. Um mehr Antworten und Werkzeuge zu geben, möchten wir zunächst andere mögliche Umfelder oder Räume für EVAS, die im Sexpowerment-Podcast angesprochen wurden, erkunden.

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EVAS mit Familien und Jugendlichen

Ein Vorschlag wäre, die Eltern dazu zu erziehen, diese Themen anzusprechen und ihre Kinder zu begleiten. „Es sind die Eltern, die den Unterschied machen müssen“, um in der Zukunft Veränderungen zu bewirken, so Andreson. Es sollten Bildungsmöglichkeiten für junge Eltern geschaffen werden, um sie in Bezug auf das Affektive und Sexuelle Leben aufzuklären, damit sie diese Informationen und Werte an ihre Kinder weitergeben können. Eine weitere Idee ist die Schaffung von Bildungsräumen für die ganze Familie. Die Idee der Erziehung unter Geschwistern (biologische Familie oder Wahlfamilie) scheint uns ebenfalls wichtig anzuführen. Sie können eine wesentliche Rolle spielen, wie Rafael L.V. im Podcast beschreibt. Er hat in der Tat enorm viel von seinem Bruder gelernt, wie man sich selbst entdeckt, seine sexuelle Orientierung und sein Geschlecht lebt und ausdrückt.

Laut Cintia A. sind es vor allem die Jugendlichen, die in den letzten Jahren ein Umdenken in Bezug auf Themen wie Sexualität, Emotionalität und Geschlechtervielfalt bewirkt haben. Sie erinnert sich, dass in den 90er Jahren viele Eltern ihre Kinder wegschickten, wenn sie sich nicht an ihre Regeln hielten oder sich von der Religion loslösen wollten. In den letzten fünf Jahren haben wir festgestellt, dass es die jungen Leute sind, die „das i-Tüpfelchen setzen“ (Cintia), die kämpfen, fordern und die neue Generation bilden, die den Wandel wirklich herbeiführen werden. Diese letzte Bemerkung zeigt uns, dass die Forderung nach einer inklusiven Bildung auf gesellschaftlicher Ebene bereits vorhanden ist, sie kommt von den Jugendlichen selbst. Dies unterstreicht noch einmal, wie wichtig es ist, den Jugendlichen in ihren Bedürfnissen zuzuhören und Räume für freie Meinungsäußerung angesichts individueller und kollektiver Bedürfnisse zu fördern.

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Räume für Gespräche und Austausch (unter Gleichaltrigen)

Alle Teilnehmenden des Podcasts waren froh, dass sie die Möglichkeit hatten, ihre Meinung zu äußern und sich auszutauschen. Sie waren der Meinung, dass Räume, in denen man sich austauschen kann, stärker gefördert werden sollten. Orte und Umgebungen, in denen wir über die noch immer stark tabuisierten Themen rund um Sexualität sprechen können, sind ebenso wichtig wie selten. Besondere Momente im Freundes- oder Familienkreis wurden ebenfalls als Beispiele vorgeschlagen.

Außerhalb der intimeren Kontexte besteht die Notwendigkeit, den Diskurs auf die gesellschaftliche Ebene zu tragen. Das Wohlbefinden muss im Mittelpunkt der öffentlichen Debatten stehen. Einen Raum für einen wohlwollenden Austausch bietet MWS („Méi Wéi Sex“), ein Podcast über das Gefühls- und Sexualleben und „Mehr als das!“ *, der von jungen Erwachsenen produziert wird. Übrigens bieten sie partizipative Workshops zu bestimmten Themen wie Konsens, Selbstliebe und Geschlechtervielfalt an.

Die Jugend- und die Sozialarbeit im Allgemeinen verfügen über ein großes kreatives Potenzial für gemeinsames Lernen. Sozialarbeiter:innen sollten kreativer sein, wenn es darum geht, Räume für Gespräche und Austausch zu schaffen. Daher ist es wichtig, dass die Regierung, die Geldgeber:innen und die Arbeitgeber:innen den Projektträger:innen und Betreuenden die Freiheit geben, Räume zu schaffen, die die Beteiligung von Jugendlichen fördern. Um Inklusion und Chancengleichheit in jedem Kontext zu fördern, muss über die Vermittlung von Respekt für Vielfalt nachgedacht werden, und zwar in den Methoden, Zielen, Regeln, der Kommunikation und der Haltung der Pädagog:innen, sowie der Referent:innen.

*“méi wéi“ bedeutet in der luxemburgischen Sprache „mehr als“.

Wenn ihr immer noch neugierig seid…

queer.lu empfiehlt euch die Podcast-Episoden, die von den beiden luxemburgischen Partnern von Sexpowerment moderiert werden:

Lëtz Rise Up moderierte die Episode: „Welche Praktiken in der Erziehung zum affektiven und sexuellen Leben, um die kulturellen Normen der Einwandererfamilien zu integrieren?“.

Lëtz Rise Up ist eine feministische und antirassistische Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, gegen alle Formen von Diskriminierung zu kämpfen. Sie führt ihre Aktionen durch die Organisation von Schulungen, Konferenzen und künstlerischen Veranstaltungen durch. Die Organisation möchte insbesondere das Wohlbefinden von Frauen, die möglicherweise diskriminiert werden, aufwerten und fördern.

4motion moderierte die Episode: „Dialog über Konsens und Grenzen“ mit Mylène Porta, einer Trainerin für Interkulturalität.

4motion ist eine aktivistische Organisation, die den sozialen Wandel fördert. Durch die Vermittlung einer inklusiven und wohlwollenden Partykultur und die Anwendung des Peer-Ansatzes richtet sich 4motion direkt an die Partygänger:innen und die Organisator:innen von Kultur- und Partyveranstaltungen.Das Projekt wurde durch das Erasmus+ Programm der Europäischen Kommission unterstützt. Weitere Partner sind Brûlant-e-s (Frankreich), Comme un Lundi asbl (Belgien) und Elan Interculturel (Frankreich).