Ronny Marx ist 77, Olivia Baker ist 16, sie kennen sich nicht und haben sich noch nie getroffen. Für queer.lu habe ich sie gebeten, mir ihre Erwartungen, Ängste, Wünsche und Bedürfnisse in Bezug auf die LGBTIQ+-Community mitzuteilen. Eine Begegnung mit zwei Generationen, deren Überzeugungen gar nicht so weit voneinander entfernt sind.

Im Namen der Vielfalt

Auf den ersten Blick sieht sie wie ein ganz normaler Teenager aus. Eine unter vielen. Sie scheint sogar ein wenig schüchtern zu sein, Olivia Baker. Doch hinter dieser Erscheinung eines unscheinbaren Mädchens verbirgt sich eine junge Schülerin mit festen Überzeugungen und konkreten Erwartungen.

Für die aus Seattle stammende Amerikanerin, deren Familie nach Luxemburg zog, als sie erst elf Jahre alt war, ist die LGBTIQ+-Community vor allem eine sichere Gemeinschaft, in der sie sich wohlfühlen kann. Eine Gruppe von Menschen, mit denen sie kommunizieren und ihre Ansichten zu verschiedenen Aspekten der Gemeinschaft und unserer Gesellschaft im Allgemeinen austauschen kann.

„Ich bin sehr dankbar, dass ich dieses Privileg habe und mich mit anderen Menschen wie mir verbinden kann.  Menschen, die mir ähnlich sind.“ In erster Linie sind es Respekt und Unterstützung, die sie sucht. „Aber das erwarte ich auch von meiner Familie und meinen Freund*innen. Ich denke, dass trotz des Alters jede*r mit Freundlichkeit und Respekt behandelt werden sollte, unabhängig von Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten.“

Diese Form der Offenheit lebt und fordert sie auch an ihrer Schule, der ISL (International School of Luxembourg), in einem Komitee namens DEIJ, das für Diversity, Equity, Inclusion und Justice (Vielfalt, Gleichheit, Einbeziehung und Gerechtigkeit) steht. „Wir versuchen, die Vielfalt in allen Klassen meiner Schule zu verbreiten und zu verfestigen. Das Komitee arbeitet ständig und sehr hart daran, meine Schule zu einem besseren und freundlicheren Ort zu machen.“

Ihr Engagement ist sicherlich kein Zufall, sondern auf die Offenheit, an die sie ihre  Familie von klein auf gewöhnt hat, zurückzuführen. „Mein 20-jähriger Bruder ist schwul, also ja, wahrscheinlich war es für mich einfacher, mit meinen Eltern über meine sexuelle Orientierung zu sprechen“, gesteht sie lachend. „Meine Eltern hatten immer diese Mentalität zu sagen, du kannst lieben, wen du willst, und so hat es mich ein wenig schockiert, als ich begriff, dass nicht jede*r mit einer solchen Mentalität aufwächst.“

Trotzdem fühlt sich die junge Frau sehr privilegiert, in der heutigen Gesellschaft zu leben, und es erscheint ihr normal, nicht zu vergessen, wofür die LGBTIQ+-Gemeinschaft in der Vergangenheit gekämpft hat. „Ich habe Rechte und ich bin sehr dankbar für all die Menschen, die lange dafür gekämpft haben, dass diese Rechte akzeptiert werden und existieren.“ Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie der Meinung ist, dass es keine Kämpfe mehr zu führen gibt.

Im Gegenteil: „Nur weil wir Rechte haben, heißt das nicht, dass wir nicht für diejenigen, die noch nicht die gleichen Rechte haben, kämpfen sollten. Ich erinnere mich, dass ich im Kindergarten war, als die Homo-Ehe in Seattle legalisiert wurde, und deshalb war ich ein wenig schockiert, als ich vor ein paar Wochen realisierte, dass Griechenland dieses Recht gerade erst erhalten hat.“ Es überrascht sie immer noch, dass bisher nur 37 Länder auf der Welt die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert haben.

Olivia ist, wie sie selbst sagt, ihr ganzes Leben lang buchstäblich in die LGBTIQ+-Community eingetaucht. Sie hofft einfach, dass die Gemeinschaft weiterhin Anstrengungen unternimmt, um sicherzustellen, dass unsere Stimmen gehört werden. „Mein größtes Vorbild ist mein Bruder. Er ist ebenfalls Teil der LGBTIQ+ Welt. Er inspiriert mich durch seine Fähigkeit, zu wachsen und die Person zu werden, die er sein möchte. Trotz der vielen Schwierigkeiten, die er durchlaufen hat, um in einer größeren Gemeinschaft akzeptiert zu werden. Er hat mir bewusst gemacht, dass meine Sexualität nicht definiert, wer ich bin. Sie ist ein Teil von mir. Genauso wie es jedem frei steht, seine Sexualität zu offenbaren oder nicht“.

Die junge Studentin ist nach wie vor davon überzeugt, dass die Gesellschaft im Allgemeinen mehr tun kann, um die Rechte von LGBTIQ+-Personen zu respektieren. Sie ist auch nicht der Typ, der auf Veränderungen hofft, ohne selbst Hand anzulegen, vor allem, wenn es um Themen geht, die besonders Jugendliche oder sie persönlich betreffen.

„Ich denke, dass die LGBTIQ+-Gemeinschaft immer sichtbarer wird und jeden Tag größer wird. Ich denke, dass Verbesserungen erzielt werden können, indem man schon in jungen Jahren gegen Homophobie zum Beispiel, aber auch gegen alle anderen Formen der Diskriminierung unterrichtet und sensibilisiert, was ich in meinem Komitee an der Schule, aber auch mit der Unterstützung des Rainbow Centers versuche zu tun.“

Der Kampf gegen die Einsamkeit

„Ich war schon immer schwul, weißt du“, sagt Ronny Marx, während er einen Schluck Martini trinkt. Er fügte stolz hinzu, dass er seinen ersten Sex im Alter von 12 Jahren hatte. Er knabbert die Erdnüsse, die uns der Kellner gebracht hat, und meint: „So, jetzt weißt du alles“. Der 77-jährige Ronny Marx nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er von seinen Erfolgen und Begegnungen in der Schwulengemeinschaft erzählt. Der ehemalige Hotelrezeptionist war jedoch nicht immer so offen und ehrlich. „Als ich jung war, war ich sehr, sehr schüchtern“, erinnert er sich.  „Ich habe kaum gesprochen. Ich blühe erst seit etwas mehr als einem Jahr auf. Seitdem ich nach einer Depression in ein Pflegeheim gegangen bin. Die Einsamkeit tut mir nicht besonders gut.”

Ronny Marx gehört zu der Generation von LGBTIQ+-Personen, die leider nicht den richtigen Schuh gefunden haben, die keine Kinder haben und die plötzlich in einem Alter sind, in dem das Jungsein mehr geschätzt wird als die Senioren, vor allem in einer LGBTIQ+-Community, die auch eine sehr oberflächliche Seite hat, die nur auf Äußerlichkeiten und Ästhetik basiert. Die Einsamkeit unter Senioren und insbesondere unter LGBTIQ+ Senioren ist leider ein sehr aktuelles Thema, das die französischen und deutschen Vereinen seit fast fünfzehn Jahren beschäftigt.

Denn neben den Problemen der Ausgrenzung gibt es auch die soziale Diskriminierung, der LGBTIQ+ Senioren ausgesetzt sein können.

„Ich fühle mich überhaupt nicht von der LGBTIQ+ Gemeinschaft ausgeschlossen“, sagt Ronny. „Ganz im Gegenteil. Das Rainbow Center organisiert regelmäßig Veranstaltungen, die mich interessieren und bei denen ich neue Leute kennenlerne.“ Stolz gibt er mir zu verstehen, dass er sogar Mitglied der Golden Gays ist, einer sozialen Gruppe für queere Menschen über 50, die unter anderem den Austausch zwischen LGBTIQ+-Senioren fördert und gleichzeitig Aktivitäten plant, die zu ihnen passen. „Ich gehe sogar ins Letz Boys! Aber am Wochenende ist es mir ein bisschen zu voll.“ Ronny ist ein Spätentwickler. „Als ich jung war, hatte ich nicht viele Freunde“, erzählte er mir, bevor er das Thema wechselt. „Ich habe derzeit zwei Liebhaber“, sagt er lachend. „Junge Leute, Leute in den Dreißigern und ich kann dir sagen, dass wir viel Spaß zusammen haben“. Er kann sich ein Lachen nicht verkneifen.

Nach einem kleinen Schluck Martini fährt er fort. „Im Altenheim habe ich viele Freunde gefunden. Wir veranstalten Karaoke-Abende und singen alle zusammen.“

Als ich ihn frage, was er, der 77-Jährige, von der LGBTIQ+-Gemeinschaft erwartet, braucht Ronny keine Bedenkzeit, um mir zu antworten. Seine Antwort ist klar und deutlich: Es ist der soziale Kontakt. „Wenn ich zum Beispiel aus dem Rainbow Center komme, werde ich mit neuer Energie aufgeladen. Ich fühle mich gut, ich bin glücklich.“

Auf die Barrikaden gehen, Rechte einfordern, Veränderungen fordern? „Nein, das liegt nicht in meiner Natur. Ich bin zu schüchtern.“ Ronny führt seinen Kampf allein. Den gegen die Einsamkeit. Das Thema taucht in der Diskussion immer wieder auf. Auch wenn es ihm schwer fällt, es zuzugeben, steht eine Angst, eine Phobie, immer wieder im Mittelpunkt des Themas: die Angst, eines Tages ganz allein zu sein. Mit 77 Jahren nimmt sich Ronny zu Recht das alleinige Recht heraus, nur seine eigenen Interessen zu berücksichtigen. Vielleicht, weil er sie zu lange beiseite geschoben hat.

Ronny Marx hat sich nie geoutet und praktisch sein ganzes Leben lang mit niemandem über seine sexuelle Orientierung gesprochen. „Jetzt sage ich es allen! Die heutige Gesellschaft ist offener und freier. Als ich jung war, habe ich geschwiegen. Meine Mutter wusste es, aber wir sprachen nicht darüber. Sie sagte nur einmal zu mir: „Mach dein Leben, mein Sohn, aber du hast nicht den einfachsten Weg gewählt.“

Heute ist der spritzige Senior weit davon entfernt, am Rande der LGBTIQ+-Gemeinschaft zu stehen, ganz im Gegenteil. Er ist überall mit dabei, interessiert sich und unterhält sich, wie er kann, wann er will und ohne jemandem etwas schuldig zu sein. Er fühlt sich endlich frei! „Ich fühle mich in der Gesellschaft, in der wir leben, sicher. Die neue Generation ist viel offener und toleranter. Früher war das nicht so. In Luxemburg gab es keine Toleranz.“

Hinter diesen etwas strengen Worten verbirgt sich eine tiefe Bewunderung für einen Eckpfeiler der LGBTIQ+-Community in Luxemburg, insbesondere was die Sichtbarkeit betrifft: den ehemaligen Premierminister Xavier Bettel.

„Bettel ist wirklich ein Vorbild für mich. Er hat seine Homosexualität nie versteckt. Er hat immer deutlich gemacht, wer er ist. Und als er geheiratet hat, wurde das von vielen Menschen akzeptiert. Das ist einfach fantastisch. Ich bewundere, dass er sich auch in Ländern, in denen Homosexualität verboten ist, für unsere Rechte einsetzt. Ich ziehe meinen Hut vor ihm. Obwohl wir ein kleines Land sind, finde ich, dass Luxemburg seiner Zeit weit voraus ist. Ja, es gibt sicherlich noch Kämpfe zu führen, gegen Intoleranz, aber ich bin überzeugt, dass es uns in Luxemburg besonders gut geht, wenn es um unsere Rechte geht.“

Fotos: Tessy Troes

Artikel aus dem Französischen übersetzt