Haben Kink und Fetisch wirklich etwas auf dem Pride verloren? Müssen Menschen in Lack und Leder, in Pferde- und Hundemasken, in Gummi, Latex oder Harness wirklich auf dem CSD mitlaufen? Schließlich sehen das ja auch Kinder. So lautet zumindest die jedes Jahr immer wieder auftauchende Sorge. Jeff Mannes findet: Ja, Kink und Fetisch gehören zum Pride dazu!

Als ich vor rund zehn Jahren nach Berlin zog, besuchte ich dort das schwul-lesbische Stadtfest. Das Event, das jedes Jahr im Juli am Wochenende vor dem Berliner CSD stattfindet, ist ein fester Bestandteil der Events im Pride Monat der deutschen Hauptstadt. Ich war gerade frisch aus dem ländlichen Luxemburg in die große Weltmetropole gezogen. Ich betrachtete gerade die Auslage an einem Informationsstand, als etwas links von mir meine Aufmerksamkeit erregte.

Eine Mutter unterhielt sich mit einem Mann, der von oben bis unten in Leder gekleidet war. Neben der Frau stand ihr Kind, ich schätze so um die fünf Jahre alt. Und neben dem Mann saß ein Hund, den er an der Leine hielt, und bellte das Kind an.

Allerdings war der Hund kein echter Hund. Es war ein Mensch, ein Puppy Player, der mit Hundemaske auf allen vieren vor dem Kind saß und es anbellte. Das Kind kriegte sich vor Lachen nicht mehr ein, während die Mutter sich locker weiter mit dem Mann in Leder unterhielt, so als sei es das Normalste der Welt. Der Hundemensch bellte, das Kind hatte einen herzerwärmenden Lachanfall, und Mutter und Handler unterhielten sich freundlich, während um sie herum das Trubeln und Treiben des Straßenfestes weiterging.

Es war das erste Mal, dass ich mit Puppy Play konfrontiert wurde und legte den Grundstein für mein Interesse an diesem Fetisch, das später in meinem soziologischen Essay über die Entstehung von Pet und Puppy Play münden sollte. Über die kommenden Jahre hinweg gewann der Fetisch rasant an Sichtbarkeit – auch bei Prides in vielen europäischen Städten. Begleitet wurde diese gesteigerte Sichtbarkeit mit einer teils queer- und sexualfeindlichen, sowie stark mit falschen Vorurteilen behafteten Diskussion über die Frage, ob Fetisch etwas auf dem Pride verloren hätte.

Dabei wird (wen wundert es?) immer wieder das Kindeswohl ins Feld geführt – vorzugsweise von Menschen, die wenig mit Pädagogik oder kindlicher Entwicklung am Hut haben. Und fast immer verraten diese Kommentare mehr über die Fantasie der Menschen, die sie äußern, als über das, was Fetisch und Kink tatsächlich sind.

Nehmen wir das Beispiel des Puppy Player: Ein Kind sieht, wenn es einen Menschen mit Hundemaske erblickt, keinen Sex. Sondern eben genau das: Ein Mensch, der eine Hundemaske trägt, der sich verkleidet. Und es hat daran Spaß – eben genau so wie das lachende Kind beim Berliner Straßenfest. Übrigens, ähnlich wie Kinder auch Spaß an Menschen mit Hunde- oder anderen Masken beim Karneval haben. Nur dass es da keinen zu stören scheint. „Aber das ist doch was ganz anderes“, höre ich bereits die Einwände. „Das hat ja nichts mit Sex zu tun!“ Und damit wären wir bereits bei den Vorurteilen.

Pet und Puppy Play, also Menschen, die sich als nicht-menschliche Tiere verkleiden, sind nicht per se sexuell. Ja, es stimmt, dass Pet und Puppy Play in BDSM-Kontexten entstanden sind. Allerdings haben sie seither ein teils losgelöstes Eigenleben gewonnen. Es gibt mittlerweile viele Menschen, die Pet Play komplett losgelöst von Sexualität praktizieren. Eine Studie von Darren Langdridge und Jamie Lawson von 2019 hat ergeben, dass es sehr unterschiedliche Motive für Pet Play, die auch komplett losgelöst von Sexualität auftreten können, gibt. Dazu gehören zum Beispiel Entspannung, Flucht aus dem Alltag, therapeutische Vorteile, Spiel und Geselligkeit, Beziehungsaufbau oder Stärkung eines Gefühls von Community. Und für manche ist es auch mit ihrer Sexualität verbunden. Und auch das heißt nicht, dass sie es nicht öffentlich tragen dürfen. Sexuelle Handlungen sind in der Öffentlichkeit verboten. Aber Kinksters beim Pride führen keine sexuellen Handlungen aus – und wir dürfen ihre Selbstdarstellung nicht mit sexueller Obszönität verwechseln.

Gleichzeitig kann ich als Sexualpädagoge sagen, dass es mit Sicherheit nicht ausgeschlossen ist, dass es Menschen gibt, für die ihre Karnevalsverkleidung auch eine sexuelle Komponente hat. Was wir also als sexuell wahrnehmen, hat weniger mit den tatsächlichen Menschen in Verkleidungen zu tun, und viel mehr mit unseren eigenen Fantasien und Vorurteilen über diese Menschen.

Egal ob Kleidung und Masken mit Wurzeln in der Fetisch-Community für den Einzelnen nun auch eine sexuelle Komponente haben oder nicht. Sie sind immer politisch. Und gehören deswegen zum Pride dazu. Pride bedeutet, dass man die von außen auferlegte Scham bekämpft, sich selbst so akzeptiert, wie man ist, und diese Akzeptanz auch von der Gesellschaft verlangt. Pride ist deswegen politisch. Sexualität ist politisch. Queeres Leben ist politisch. Und Kink ist ebenfalls politisch.

Menschen aus der Fetisch-Community haben seit Beginn der CSDs in den frühen 70ern stets für die Rechte von LGBTQIA+ Menschen mitgekämpft. Während Drag im Jahr 2024 nicht mehr als Kink gilt (und trotzdem immer noch bekämpft wird – beispielsweise durch den Rechtspopulisten und ADR-Abgeordneten Tom Weidig), wurde es Mitte des 20. Jahrhunderts als sexuell abartig angesehen. Im Jahr 1969, als in New York die Aufstände gegen queerfeindliche Polizeigewalt rund um die Stonewall-Bar losgingen, die den Grundstein für die CSDs legten, gab es dort noch Gesetze, die „Cross-Dressing“ verboten. Viele der führenden Köpfe der queeren Befreiungsbewegung, darunter die trans Sexarbeiterinnen Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera, hatten Crossdressing-Vorwürfe in ihren Akten und galten nach der damaligen Definition als „kinky“.

Die Leder-Community hat ebenfalls tiefe historische Wurzeln in der queeren Bewegung, die bis in die 1940er Jahre zurückreichen. Lederbars wurden in den 1950er und 1960er Jahren zu Safer Spaces für queere Menschen und schufen eine Ersatzfamilie für queere Jugendliche, die von ihren Eltern verstoßen wurden. Und als es dann 1969 zu eben jenen Stonewall-Aufständen kam, war die Leder-Community mit dabei. Zu denjenigen, die bei den Stonewall-Aufständen Hand in Hand gegen die Polizeigewalt kämpften – und zu denen, die später weltweit und auch hier in Europa gegen die HIV/Aids-Epidemie kämpften und dies auch heute noch tun – gehörten viele Leder-Daddys, Menschen, die BDSM betreiben, sowie Drag Queens und Kings.

Sie waren stets Teil der Bewegung. Der Versuch auch von Menschen innerhalb queerer Communitys, sie jetzt vom Pride auszuschließen zeigt vor allem eins: Streit darüber, wer sich als queer bezeichnen darf und wie queer wir auftreten dürfen. Es ist Teil dessen, was im Englischen als „Respectability Politics“ bezeichnet wird, eine Herangehensweise, die versucht, sich so nah wie möglich an die Cis-Heteronorm anzupassen, um doch ja bitte von der cis Heterowelt akzeptiert zu werden. Doch das führt nicht zu wahrer Akzeptanz. Es führt lediglich zu bedingter Akzeptanz, die jederzeit wieder weggenommen werden kann, wenn wir es wagen, „zu auffällig“ aufzutreten. „Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber können die sich bei ihren Paraden nicht normal verhalten?“ „Ich hab ja nichts gegen queere Menschen, aber müssen die sich immer so auffällig benehmen?“

Ich hab nichts gegen queere Menschen, aber… Es ist das Nachgeben in und Fortsetzen des queeren Traumas der bedingten Liebe, die viele von uns bereits durch das Elternhaus erfahren haben: Liebe und Akzeptanz sind an die Bedingung geknüpft, sich an eine vorgefertigte Lebensweise anzupassen. Viele von uns haben diese Normen verinnerlicht. Wir beurteilen uns selbst danach und kritisieren und grenzen andere aus, wenn sie sich nicht an sie halten. Das ist dieselbe Botschaft, die uns als Jugendliche Angst vor dem Coming-out gemacht hat. Doch das ist keine echte Akzeptanz, keine echte Liebe. Und Menschen, die das wirklich glauben, tun mir Leid.

Das Traurige daran ist: Während wir manchmal selbst damit beschäftigt sind, darüber zu streiten, ob Kink und Fetisch zum Pride gehören, eignet sich die cis-heteronormative Welt die Codes und Kleidungsstile aus der Fetisch-Community an und macht sie langsam zur Mode für alle. Tom of Finland hat mit seinen hypermaskulinen Zeichnungen die schwule Fetisch-Community maßgeblich geprägt und empowert. Robert Mapplethorpe hat diese Symbolik für seine bahnbrechenden Fotografien aufgegriffen. Das wiederum hat die Modewelt inspiriert, von wo aus sich Codes und Symbole aus der Fetisch-Community in die Mainstream-Culture ausgebreitet haben. Ebenso durch die Village People und ihre Songs „Macho Man“ oder „YMCA“. Die gleichen Leute, die heute noch „kein Kink beim Pride“ rufen, tragen morgen schon Outfits mit integrierten Harnesses, die sie bei H&M oder C&A eingekauft haben.

Ich frage deshalb: Wie viel von uns selbst sind wir bereit zu verwässern, um von der Gesellschaft akzeptiert zu werden – einer Gesellschaft, die uns beschämt und stigmatisiert, während sie gleichzeitig Profit aus unserer Kultur schlägt?

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