ICH ATME.

Isabel Spigarelli © Private

A story that never ends…
In each issue, a new writer will pick up where the previous author ended. In our previous issue, Joël Adami took us on a surprising continuation of Kerstin Medinger’s story. Now, we are excited to find out where our next contributor, Isabel Spigarelli, will take the story. Be ready, twists and turns lurk around. Previous stories are available online via queer.lu and writers are encouraged to write in either English, German, French, or Luxembourgish.

 

Tür: aufschließen.
Licht? Anschalten.
Helm – auf der Kommode ablegen.

Die Tür fällt ins Schloss.

Atmen.

Fünf Sekunden ein.

Fünf Sekunden aus.

Eins.
Zwei.
Drei.
Vier.
Fünf.

Fünf.
Vier.
Drei.
Zwei.
Eins.

Sie zieht zuerst ihre Schuhe, dann ihr verschwitztes Oberteil und die Radlerhose aus. Ein Blick auf ihre Beine, auf ihre Arme: Sie sind immer noch da – 500.762 kleine, schwarze Härchen. Jedes einzelne hatte sie damals gezählt. Eins nach dem anderen wollte sie sich ausreißen und in ein Fotoalbum kleben, als Erinnerung an ein Leben, für das sich andere schämten.

Ihr Telefon klingelt, kurz und laut. Es ist ein schriller Ton, der sie aus den Gedanken reißt. Sie wühlt sich durch den Kleiderhaufen, greift nach dem Handy und hofft, dass es nicht ihre Vermieterin ist, der sie zwei Monatsmieten schuldet.

„Hier ist Nell. Wollte nur sichergehen, dass Du es gut nachhause geschafft hast“, steht auf dem Bildschirm.

Sie seufzt, schreibt, will Entwarnung geben: „Alles gut. Hoffe, bei dir auch.“ Was wohl passiert, wenn sie die Nachricht abschickt? Sie zögert. Eine Bekanntschaft, die mit einer Lüge beginnt, kann sie nur ins Verderben stürzen. Sie klickt auf Nells Profilbild: ein pinkes Strichmännchen, daneben der Spruch „Here comes the sun“. Nell ist online. Sie zuckt zusammen, schließt das Chatfenster und wählt eine andere Nummer. Das Freizeichen ertönt, als sie mit kleinen Schritten zum Kühlschrank läuft, um sich eine Flasche Mate zu holen.

„Na?“ Sie trinkt einen Schluck.

„War anstrengend“, sagt sie. „Es hat sich wieder eine Touristin hierhin verirrt.“

Sie hält inne, blickt aus dem Fenster, hinaus auf die Stadtlichter.

„Ich habe behauptet, ich sei Veterinärin.“ Gelächter. „Natürlich hat sie mir sofort ihre Nummer gesteckt. Mein Passing ist eins a, weißt Du doch. Sie hat mich zum Abschied sogar umarmt.“

Draußen heult ein Wolf. Lange, wehmütig, voller Sehnsucht.

„Hörst Du ihn? Arme Sau“, flüstert sie. „Ich war so nah dran. Hätte Nell nicht … Nell ist die Touristin, die auf mich steht. Hätte die nicht dazwischen gefunkt, wäre ich bestimmt näher an ihn herangekommen. Was? Klar steht die auf mich. Ich bin immer vorsichtig … Aber weißt Du, was mich beunruhigt? Wir haben einen Schädel gefunden, schon der fünfte in diesem Monat.“

Das Heulen geht im Lärm der Straßenbahn unter.

„Natürlich wollen die Bullen nichts mit der Sache zu tun haben. Für die sind wir selbst hier immer noch Freaks, die nichts anderes verdient haben, als dass man uns abschlachtet.“

Sie trinkt weiter, setzt sich kurz aufs Sofa, um sofort wieder aufzustehen und das Fenster weit aufzureißen. Es ist eine ruhige, milde Nacht. Die Straßen sind leer, bis auf ein, zwei Schatten, die an den Hauswänden entlang huschen. Irgendwo da draußen irrt er hilflos durch die Wälder, vielleicht ist er längst … Sie schüttelt den Kopf, als könnte sie die Gedanken an seinen Tod vertreiben.

„Darüber haben wir doch schon geredet. Ich bin gegen Selbstjustiz und Köder.“ Sie atmet auf. „Nell? Vergiss es. Niemals. Nein. Wie, warum nicht?“

Die Frage trifft sie, immerhin haben sie ein gemeinsames Trauma hinter sich.
Eins, das sie bis heute nicht loslässt.

Schreie.
Blut.
Blut.
But.
Ellas Tränen.

Ellas Tränen.
Blut.
Blut.
Blut.
Schreie.

„Du hast Ella vergessen. Rede dich nicht heraus. Du könntest nie im Leben vorschlagen, Nell als Lockvogel zu missbrauchen, wenn du dich an Ella erinnern würdest.“

Vor zwei Tagen hatte sie versprochen, nicht mehr herumzuschreien, sich nicht mehr mit ihr anzulegen – ihre Wut zu zügeln, weniger impulsiv zu reagieren. Seitdem vermied sie es, anzurufen.

Die Panik in ihr schleicht sich an wie ein Tier.

Sie beginnt zu zählen.

Fünf.
Vier.
Drei.
Ella, wie sie verlegen lächelt.
Ella, wie sie sich freut.
Ella.

„Du, es ist besser, wir legen auf … Weil ich mich schlecht fühle. Vorhin ging es mir gut, jetzt geht es mir beschissen – kommt vor. Ja, ich atme. Ich mache nichts anderes mehr, seit wir Ella geopfert haben. Opfern ist das richtige Wort, doch. Es ist genau das, was wir getan haben: Wir wollten wissen, was passiert, wenn … Unterbrich mich nicht! Du weißt genau, was war. Ich rege mich nicht auf, ich sag dir nur die Wahrheit – und du verträgst sie nicht.“

Sie schlägt mit geballten Fäusten auf den Fenstersims. Die Schläge gelten vor allem ihr selbst: Warum wählt sie immer wieder diese Nummer? Ist das nur ein weiterer Ausdruck ihrer Selbstzerstörung? Am anderen Ende der Leitung herrscht betretenes Schweigen. Wie immer, wenn sie die Kontrolle verliert.

„Bist du noch dran?“

„Ja.“

„Ich habe Angst.“

„Ich weiß.“

„Und jetzt?“

„Hörspiel?“

„Dafür ist es zu spät.“

„Wovor hast du Angst?“

„Dass sich die Geschichte wiederholt.“

„Welche?“

„Du weißt, was ich meine.“

„Sprich es aus.“

„Dass wir wieder gejagt werden.“

„Dafür sind wir zu stark.“

„Meinst du?“

„Das weiß ich.“

„Am Ende sind wir alleine.“

„Nein, wir sind viele.“

„Wo denn?“

„Überall.“

„Huh…“

„Besser?“

Stille.

„Bist du noch dran?“

„Ja.“

„Sag was.“

„Ich muss nachdenken.“

„Worüber?“

„Ella, die Schädel … worüber Menschen so nachdenken.“

Sie lachen leise.

„Wir hören uns morgen?“

„Vielleicht. Gute Nacht.“

Schon bald dröhnt Musik durch ihre Wohnung und dringt in jede Ecke vor. Jetzt ist der eine Raum, den sie zum Leben braucht, abgedunkelt. Nur das Licht der Straßenlaterne erhellt das Zimmer. Sie liegt halbnackt auf einem Teppich mit zerfransten Ecken und blauen Rauten. Die Augen geschlossen, die Arme weit ausgestreckt. Das Gedankenkarussell dreht und dreht und dreht und dreht sich. Alle sind da, außer ihr selbst. Immer wieder erscheint Nell mit ihrem vielsagenden Blick, bis nur noch sie auf dem Karussell zu sitzen scheint.

„Steig ab“, denkt sie und will plötzlich aufschreien. „Renne! Renne, so weit du kannst.“

Langsam steht sie auf, sucht das Handy und beginnt zu tippen. Schnell, aufgeregt, mit schwitzenden Händen. Sie zieht sich einen Pulli über, schlüpft in ihre Jeans und kämmt sich mit den Fingern durchs Haar. Als es eine halbe Stunde später an ihre Haustür klopft, rast ihr Herz. „It was a bad idea“, schallt es aus den Lautsprechern. „Calling you up. Was such a bad idea. Cause now I m
even more lost.“

Eins.
Zwei.
Drei.
Vier.
Fünf.